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Nigeria-Expertin Marija Peran über Nigerias unzählige innere Konflikte, grassierende Gewalt und die schwierigen Wahlen am 25. Februar.
Frau Peran, den Überblick über die vielen gewaltsamen Konflikte in Nigeria zu behalten, fällt schwer. Auch, weil sie sich ausbreiten. Wie sehen Sie die Lage?
Die Sicherheitslage in Nigeria verschlechtert sich seit Jahren und die Konflikte überlappen sich zunehmend. Im Nordosten des Landes liegt das vor allem an islamistischen Terrorgruppen, da sind vor allem „Boko Haram“ und „Islamic State West Africa Province“ zu nennen. Dieses Problem besteht seit über zwanzig Jahren, es hat sich in den letzten Jahren aber verschärft. Im Nordwesten hingegen operieren professionell organisierte Banden, die Entführungen zu einem sehr lohnenswerten Wirtschaftsmodell gemacht haben.
Laut Recherchen des Magazins „The New Humanitarian“ soll es im Nordwesten in den letzten drei Monaten 2022 über tausend Entführungen gegeben haben.
Ja, dieses Phänomen hat in den letzten ein, zwei Jahren wirklich stark zugenommen. Die Gruppen, die im Nordwesten aktiv sind, sind sehr gut organisiert.
Diese Entführungen haben aber nichts mit den Massenentführungen von Schülerinnen durch Boko Haram zu tun, die immer wieder Schlagzeilen machen, oder?
Tatsächlich sind Schulen auch im Nordwesten oft Ziel. Die Lage ist aufgrund nicht immer nachvollziehbarer Allianzen sehr komplex und ehrlich gesagt nicht einmal für die Sicherheitsorgane hier vollständig abschätzbar. Im Nordwesten operiert auch eine islamistische Gruppe – Ansaru. Die bekennen sich zu al-Kaida und deren Aktivitäten haben 2022 auch an Fahrt aufgenommen. Wir haben da Überlappungen von „nur“ aus Gewinnabsicht agierenden Banden und von Taten mit islamistisch motiviertem Hintergrund. Entführungen sind auf jeden Fall ein wichtiger Teil der Kriegsökonomie.
Auch in anderen westafrikanischen Ländern wie Mali und Niger breitet sich der Terror aus. Sind die dort aktiven Gruppen mit den nigerianischen vernetzt?
Die Verbindungen werden stärker. Die regionalen IS-Fraktionen agieren mittlerweile extrem professionell. Die erwähnte Kriegsökonomie läuft bei ihnen sehr gut, sie haben also viel Geld, sie haben viele Trainings und verfügen über einen sehr gut funktionierenden Kommunikationsapparat. Wir können heute nur teilweise erahnen, welche weiteren Länder und Regionen in Zukunft betroffen sein werden.
Und in Nigeria gibt es ja noch weitere Konflikte.
Einer davon schwelt im sogenannten Middle Belt, einer für die Nahrungsmittelproduktion wichtigen Region in der Mitte des Landes. Dort gibt es schon seit Jahrzehnten einen Konflikt zwischen traditionell eher sesshaften Bauern, die in der Regel christlich sind, und nomadisch lebenden Fulani-Hirten, die muslimisch sind. Im Kern ist das ein Landnutzungskonflikt, der verschärft wird durch Klimawandelfolgen, konkret zunehmende Wüstenbildung. Dieser Konflikt wurde aber – wie so viele andere Konflikte auch – in den letzten Jahren zunehmend religiös aufgeladen: also Christen versus Muslime. Das war nicht der Anfangspunkt dieses Konfliktes. Heute gibt es dort wahnsinnig viel brutale Gewalt und viele Racheaktionen zwischen den beiden Gruppen. Ein weiterer Konflikt existiert im Süden im Niger-Delta, dort operieren rund um die Ölpipelines Banden, die Öl rauben. Man geht davon aus, dass 2022 ein Fünftel der nigerianischen Ölvorkommen in kriminelle Strukturen geflossen ist. Und dann gibt es noch im Südosten des Landes Bestrebungen um eine Abspaltung von Nigeria. Das ist die Region, in der Ende der 60er der Biafra-Krieg stattgefunden hat. Die „Indigenous People of Biafra“ (Ipob) sind hier die führende Organisation, und nachdem 2021 ein wichtiger Ipob-Führer festgenommen wurde, kommt es hier zunehmend zu Gewalt.
Bisher war es in Nigeria so, dass Herkunft und Religion des Präsidenten wechseln, dass also auf einen Muslim aus dem Norden ein Christ aus dem Süden folgen muss. Dieses „Zoning“ scheinen die großen Parteien bei diesen Wahlen aber nicht mehr zu beherzigen. Das dürfte die Situation im Südosten anheizen, oder?
Zur Person
Marija Peran, 37, leitet seit Juni 2022 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Nigeria. Mehr Informationen: kas.de/nigeria (fab)
Ja, das muss man so sagen, der zu erwartende Hotspot gewaltsamer Unruhen, die mit den anstehenden Wahlen zu tun haben – sonst ist es bisher relativ ruhig geblieben im Land –, liegt dort. Die im Südosten lebenden Igbo haben in Nigeria noch nie einen Präsidenten gestellt, obwohl sie die drittgrößte Volksgruppe im Land sind.
Unabhängig von den großen Parteien tritt nun mit Peter Obi aber ein Kandidat aus der Region an.
Richtig. Nun steht im Südosten aber auch der Vorwurf im Raum, dass die Menschen systematisch abgehalten werden sollen, frei wählen zu gehen. Das hat unter anderem mit Zugängen zu Wahlberechtigungskarten zu tun, ohne die man nicht wählen kann. Tatsächlich gab es Probleme bei der Verteilung dieser Karten.
Parallel zu all diesen Konflikten wächst mit Lagos eine boomende Metropole im Südwesten des Landes heran. Gerade wurde dort eine neue Hochbahn eingeweiht.
Nigeria ist wirklich schwer zu greifen. Wir erleben hier ein Nebeneinander ganz verschiedener Realitäten. Lagos ist Kultur- und Finanzmetropole, wir sehen dort weltweit mit die größten Innovationen im Finanzdienstleistungssektor, Google und Microsoft investieren dreistellige Millionenbeträge in die Entwicklung von Exzellenzclustern in Lagos. Und es wurden dort in letzter Zeit Mammutinfrastrukturprojekte umgesetzt – ein neuer Tiefseehafen und der erwähnte Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.
Trotzdem weiten sich die Konfliktherde des Landes aus. Warum gelingt es dem Staat nicht, dagegen vorzugehen?
Einerseits ist die Regierungsführung oft schlecht, und zwar dahingehend, dass sie von Eigeninteressen geleitet ist. Korruption ist weit verbreitet. Wir haben aber auch eine schlechte Organisation des Sicherheitssektors. Er ist schlecht ausgestattet und von Rotation geprägt: Das soll verhindern, dass einzelne Personen zu viel Macht anhäufen. Das hat mit Nigerias Geschichte als frühere Militärdiktatur zu tun. Gleichzeitig geht damit aber Erfahrung und Stabilität verloren. Aus dem gleichen Grund gibt es kaum Kooperation zwischen den Sicherheitsorganen – es herrscht ein hoher Grad an Misstrauen. Dazu kommt, dass es viele informelle Akteure und Gruppierungen gibt, etwa Bürgerwehren, die teils auch vom Staat finanziert werden. Das ist extrem undurchsichtig und natürlich auch beim Thema Nachverfolgung von Menschenrechtsverletzungen ein Problem. Eine weitere Herausforderung ist der schlecht ausgestattete Haushalt, der von Überschuldung geprägt ist.
Dabei hat Nigeria doch so große Ölreserven…
Ja, aber das Land schafft es nicht, den Reichtum an Erdöl und Erdgas in eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu übersetzen. Das hat verschiedene Gründe: Erstens verfügt das Land derzeit über keine einzige Raffinerie – es wird also Rohöl ex- und Benzin importiert. Und dann werden Ölprodukte im Land immer noch subventioniert, auch wenn jetzt Konsens herrscht, dass diese Subventionen abgeschafft werden sollen, denn sie fressen regelrecht den Staatshaushalt auf. Und dann gibt es ja noch den erwähnten Öldiebstahl.
Ein Problem dürfte auch sein, dass die Armee oft brutal agiert und Teile der Bevölkerung somit gegen sich aufbringt, oder?
Ja, die Bevölkerung fühlt sich oft nicht nur unzureichend beschützt, sondern erlebt auch Gewalt durch die Sicherheitskräfte selbst, sodass sie sich deshalb teilweise den Gruppen anschließen, die man eigentlich bekämpfen will. Aber der Hauptgrund dafür ist die grassierende Armut. Hiervon sind auch die Sicherheitskräfte betroffen: Selbst ein durchschnittlicher Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden verdient relativ wenig Geld. Wir reden von 30 bis 70 Dollar für einen einfachen Polizei- oder Armeeangehörigen im Monat. Die schlechte Bezahlung macht die Leute anfällig für Korruption. Und somit zum Teil des Problems, das sie eigentlich bekämpfen sollen. Am Ende kämpfen auch sie oft ums Überleben, gegen den Hunger. So verliert man natürlich auch das Vertrauen in der Bevölkerung. Da befindet sich das Land wirklich in einer Negativspirale.
Die westlichen europäischen Staaten verlieren in West- und Zentralafrika an Boden, Russland wird in Ländern wie Mali aktiver. Welche Position nimmt hier Nigeria ein?
Nigeria agiert außenpolitisch sehr schlau. Ich würde das etwas salopper so formulieren, dass das Land überall ein Eisen im Feuer hat. Man kooperiert ohne Ausschluss mit allen denkbaren Partnern. Auch gerne mit dem Westen. Ich betone immer gerne, dass sich Nigerianer als Demokraten verstehen. Wie stark und gefestigt diese Demokratie ist und ob sie immer mit unserer Vorstellung von Demokratie vergleichbar ist, das ist eine andere Frage. Aber ich finde es wichtig zu verstehen, dass dieses Selbstverständnis besteht und dass man unser westliches Lebensmodell gut findet. Natürlich kooperiert Nigeria auch mit China – Nigeria agiert aber auch da wieder sehr schlau und macht sich nicht so abhängig von China wie andere afrikanische Länder – dafür ist Nigeria auch zu groß und unter Gebern zu beliebt. Gleichwohl wenden sich die Nigerianer in der Regel an die Chinesen, wenn sie große Infrastrukturprojekte, also Flughäfen und so weiter bauen möchten oder die erwähnte Hochbahn in Lagos. Der Vorwurf an den Westen ist an dieser Stelle auch eindeutig: „China knebelt uns nicht mit neokolonialen Verträgen wie es der Westen tut“. Der Vorwurf ist ganz eindeutig im Raum, wird auch so formuliert. China setzt in Nigeria zudem mit langfristiger Perspektive einige softere Tools ein. Zum Beispiel werden jährlich über tausend nigerianische Journalistinnen und Journalisten von China geschult. Diese Leute sind dann natürlich auch in einer gewissen Weise gebunden an China.
Und Russland?
Die Strukturen sind da eher undurchsichtig. Im letzten Jahr gab es die Diskussion, ob vielleicht auch russische Wagner-Truppen in Nigeria sind, es gab Hinweise via Flugdaten, dass Wagner-Flugzeuge im Land waren. Am Ende hat aber keiner der Experten aus dem Sicherheitsbereich hier bestätigt, dass Wagner im Land ist. Den Einsatz von Wagner und die russische Präsenz im Sahel sehen auf jeden Fall auch in Nigeria viele Menschen sehr kritisch.
Interview: Fabian Scheuermann
Ein überblicksartiger Bericht zu den kommenden Wahlen in Nigeria von unserem Afrikakorrespondenten Johannes Dieterich ist hier nachzulesen.
Wahlen in Nigeria
Im westafrikanischen Nigeria leben 220 Millionen Menschen, fast 100 Millionen davon sind am 25. Februar dazu aufgerufen, den Präsidenten sowie die Nationalversammlung und regionale politische Vertretungen zu wählen.
Die aussichtsreichsten Kandidaten sind Bola Tinubu (70) von der Regierungspartei All Progressive Congress (APC) sowie Atiku Abubakar (76) von der People’s Democratic Party (PCP). Konkurrenz macht den beiden etablierten Machtpolitikern der 61-jährige Peter Obi, der sich als Kämpfer gegen Korruption profiliert.
Frauen werden bei den diesjährigen Wahlen wohl eine noch geringere Rolle spielen als in der Vergangenheit ohnehin schon. Marija Peran von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Nigeria geht davon aus, dass nur rund sechs Prozent der am Ende gewählten Politiker:innen in Nigeria weiblich sein werden. (fab)
Author: Lynn Crawford
Last Updated: 1703147041
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